Höhenschwindel: Jeder Vierte kann nicht hoch hinaus
Der Balkon ist zu hoch, ein Ausflug auf den Fernsehturm ist ausgeschlossen, die Bergtour muss unweigerlich an einer steilen Stelle aufgegeben werden: Höhenschwindel ist häufiger und belastender als gemeinhin angenommen.
Zwar weiss man, dass rund vier Prozent der Bevölkerung an einer phobischen Höhenangst leiden, also an einer echten Erkrankung. Neu ist aber, dass 28 Prozent von der visuellen Höhenintoleranz betroffen sind. Und bei rund der Hälfte dieser Personen beeinträchtigt dieses Symptom sogar ihr Verhalten und ihre Lebensqualität. „Die Umwelt wird dann nur noch eingeschränkt wahrgenommen, der Gang ist unsicher und die Gefahr von Stürzen wächst“, erläutert der Neurologe Thomas Brandt, Hertie-Seniorprofessor und Leiter des Deutschen Zentrums für Schwindel- und Gleichgewichtsstörungen am Klinikum Grosshadern der Universität München.
„Trotz der weiten Verbreitung gibt es bisher nur wenige experimentelle Untersuchungen zum Höhenschwindel“, sagt Brandt, der zu dem Thema auf dem diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Dresden den Festvortrag auf der Eröffnungsveranstaltung halten wird. Wanderer, die in diesem Herbst erstmals hohe Berge erklimmen wollen, müssen sich auf eine unangenehme Überraschung gefasst machen: Viele von ihnen werden einen Höhenschwindel erleben, und jeder zweite wird danach seine körperlichen Aktivitäten so einschränken, dass ihm das unangenehme Gefühl erspart bleibt.
Meistens beginnt der Höhenschwindel erst im zweiten Lebensjahrzehnt, kann dann aber das ganze Leben lang bestehen. In mehr als der Hälfte der Fälle verschlimmert sich das Phänomen über die Jahre. Oft gibt es einen Auslöserreiz: Am häufigsten ist es das Besteigen eines Turms, am zweithäufigsten das Erklimmen einer Leiter, gefolgt von einer Bergwanderung. Etwa 30 Prozent der Betroffenen machen diese Erfahrung im zweiten Lebensjahrzehnt. „Nur elf Prozent der Betroffenen suchen einen Arzt auf“, hat Brandt mit seinen Mitarbeitern bei einer repräsentativen Befragung von 3517 Personen festgestellt.
Moderne Schwindelforschung für ein archaisches Phänomen
Was dabei im Körper vor sich geht, untersucht die Arbeitsgruppe von Professor Brandt in München mit modernsten Methoden: Die Forscher nutzen ein mobiles Augenbewegungsmesssystem mit einer zusätzlichen Kamera und Sensoren, die die Kopfbeschleunigung erfassen. Dabei zeigte sich, dass anfällige Personen dazu neigen, den Blick auf den Horizont zu richten. Sie führen weniger Augenbewegungen zur Erkundung der Umgebung aus, vor allem wird der Kopf in allen Ebenen deutlich weniger bewegt. „Der Gang ist deutlich verlangsamt, kleinschrittig und vorsichtig. Durch die eingeschränkten Blickbewegungen kann sich auf unebenem Terrain die reale Fallgefahr erhöhen, wenn Hindernisse übersehen werden“, sagt Brandt.
Weitere Experimente sowohl mit natürlicher als auch virtueller Höhenreizung sollen nun helfen, neue Therapien zu entwickeln, denn wirksame Medikamente gibt es bisher nicht. „Womöglich" können wir aus unseren Daten eine Verhaltenstherapie ableiten, bei der die Angst vor der Höhe durch konkrete Anleitungen zum Blick-, Stand- und Gangverhalten verbessert wird“, hofft Brandt. Der Neurologe, der in Kürze für sein Lebenswerk in der Schwindelforschung mit der Wilhelm-Erb- Gedenkmünze ausgezeichnet wird, hat sich auch mit der Geschichte dieses Phänomens auseinandergesetzt. Auf seinem Festvortrag zur Eröffnung der DGN-Jahrestagung wird Brandt weit zurückblicken können: Er fand mit seiner Arbeitsgruppe eine lebendige Beschreibung der Symptome im Corpus Hippocraticum, einer Sammlung antiker medizinischer Texte aus dem fünften Jahrhundert v. Chr., und in römischen Berichten zur Erstürmung der hohen Stadtmauern Karthagos sowie zur Alpen-Überquerung Hannibals. Auch im Huang Di Nei Jing, einem der ältesten Standardwerke der chinesischen Medizin, werden die Symptome ausführlich dargestellt und mögliche Ursachen diskutiert.
„Der Höhenschwindel ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit, doch nun sind wir kurz davor, Therapien zu entwickeln, die auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament stehen. Bis dahin müssen wir unser Gehirn mit Verhaltenstherapie und kleinen Tricks im Alltag überlisten“, so Brandt. Eine Pille gegen die Höhenangst, so der Neurologe, wird es nicht so schnell geben.
19.09.2013