MS: Gespräch mit einer Betroffenen über ihren Umgang mit den kognitiven Störungen
Mitte Juli 2011 erhielt sie die ''sichere Multiple Sklerose (MS)-Diagnose''. Sprechzimmer sprach mit der Frau, welche Familie hat und im besten Alter ist, über ihre kognitiven Störungen, die häufig mit MS einhergehen.
Die MS-Betroffene will aus verständlichen Gründen anonym bleiben. Die Antworten werden unverändert widergegeben.
Es wird beschrieben, wie die kognitiven Störungen den Alltag beeinträchtigen. Und wie ihnen mit Strategien entgegengetreten werden kann.
Zum Schluss die Botschaft an alle, welche die MS-Diagnose erhalten: Nicht verzweifeln! Hilfe annehmen! Traurigkeit zulassen!
Legende zum Gespräch
- Wann erhielten Sie die "sichere MS-Diagnose"?
- Wie war es vor der Diagnose?
- Wie machten und machen sich die kognitiven Störungen in Ihrem Alltag bemerkbar?
- Welches sind Strategien zur Überlistung der kognitiven Störungen?
- Wie reagiert Ihre persönliches Umfeld auf die kognitiven Störungen?
- Was empfehlen Sie Menschen, welche die MS-Diagnose erhalten?
Wann erhielten Sie die "sichere MS-Diagnose"?
MS-Betroffene: Mitte Juli 2011. Seitdem bin ich im Krankenstand. Ich brauche mehr Zeit für den Haushalt. Beim Arbeiten bin ich langsamer geworden. Ich brauche mehr Pausen, weil ich Schmerzen in den Beinen und Füssen bekomme. Alle zwei Stunde muss ich mich hinlegen, um die Beine zu entlasten. Die Blase macht sich so rund jede Stunde bemerkbar. Dann muss ich sofort zur Toilette. Die Nächte sind manchmal wirklich lang. Wenn es zu Schüben kommt, kann ich nicht schlafen. Es gibt auch gute Tage. Dann bin ich sehr aktiv und dankbar.
Wie war es vor der Diagnose?
MS-Betroffene: Schon drei Jahre vor der MS-Diagnose bemerkte ich, dass mein Gedächtnis nachgelassen hat. Besonders beim Kochen hatte ich Mühe. Die Planung für ein komplettes Menü und gleichzeitig mehrere Dinge zu tun, wurden schwieriger. Ich dachte mir damals, diese Störungen sind vielleicht eine Folge der hormonellen Veränderung, in der ich mich gerade befunden habe.
Wie machten und machen sich die kognitiven Störungen in Ihrem Alltag bemerkbar?
MS-Betroffene: Ich arbeite in der Spitex als Haushelferin. In den Teamsitzungen fiel es mir immer schwerer, über meine Tätigkeit zu berichten. Die Ablenkung durch die vielen Gespräche machte sich in der Konzentration bemerkbar. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, was ich bei meinen Klienten alles gemacht habe. Erst nach längeren Überlegungen fiel es mir dann wieder ein. Oft musste und muss ich Dinge suchen, die ich verlegt habe. Oder ich verliere den "roten Faden" in Gesprächen. Ein Buch zu lesen wurde plötzlich schwierig. Ich habe früher immer viel gelesen. Für einen Film im Fernsehen reicht die Konzentration auch nicht immer. Am liebsten schaue ich jetzt Dokumentarsendungen. Bei deren Tempo komme ich noch gut mit.
Sprechzimmer: Welches sind Strategien zur Überlistung der kognitiven Störungen?
MS-Betroffene: Für die Teamsitzungen hatte ich jeweils einen Spickzettel, den ich zu Hause in aller Ruhe geschrieben habe. Ohne Ablenkung funktionierte mein Gedächtnis. Aber peinlich war das schon: Man versteckt diese Schwäche so sorgfältig wie möglich. Bei der Arbeit muss man das verschweigen. Sonst wäre der Arbeitsplatz vielleicht in Gefahr. Überhaupt hilft mir das Aufschreiben im Alltag: Kurze Notizen schnell auf einen Block geschrieben, der immer bereitliegt, geben mir Sicherheit. Wichtige Termine schreibe ich am besten nochmals auf, trotz Agenda. Und: Nebst den Einkaufslisten schreibe ich seit September 2011 ein Tagebuch. Überdies lese ich die Zeitung und schaue die Nachrichten in der Tagesschau. Das ist mir sehr wichtig: Ich möchte auf dem Laufenden bleiben!
Sprechzimmer: Wie reagiert Ihre persönliches Umfeld auf die kognitiven Störungen?
MS-Betroffene: Mein persönliches Umfeld reagiert solidarisch auf diese Einschränkungen. Sie wissen, dass ich nichts dafür kann. Ich war immer eine äusserst zuverlässige Person. Unterstützt werde ich von meinem Umfeld, indem mir alle meine Lieben Geduld und Toleranz entgegenbringen. Bei wichtigen Terminen haben mich meine Töchter schon belgeitet. Dann komme ich mir jeweils wie ihr Kind vor. Manchmal ärgern sie sich auch über meine Vergesslichkeit. Das kann ich gut verstehen. Es ist auch für die Familie nicht einfach, meine geistigen Einschränkungen zu sehen und zu akzeptieren.
Sprechzimmer: Was empfehlen Sie Menschen, welche die MS-Diagnose erhalten?
MS-Betroffene: Nicht verzweifeln! Hilfe annehmen! Traurigkeit zulassen! Mein Arzt ist mir eine grosse Hilfe. Ich spüre ein Vertrauen und eine Stütze durch seine menschliche Art und sein Fachwissen. Ich habe das Angebot der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft angenommen. Auch erhalte ich eine sehr gute Betreuung für das Medikament, das ich täglich spritzen muss. Überdies mache ich eine Therapie für die kognitiven Störungen. Einmal wöchentlich gehe ich zu einer Neuropsychologin. Es tut gut zu wissen: Man ist nicht allein mit der MS-Diagnose.
Sprechzimmer bedankt sich bei der Interview-Partnerin für das sehr aufschlussreiche und persönliche Gespräch und wünscht Ihr alles Gute für Ihr weiteres Leben.
03.10.2011