Zum MS-Welttag: '' Ich habe die MS, nicht die MS mich''
Trotz MS sportlich sein? Dass das geht, beweist Christian Rusterholz und fährt mit seinem Team rund 1700 Kilometer auf dem Fahrrad von Dänemark nach Zürich. Seine Botschaft: Trotz MS aktiv bleiben und wenn möglich Grenzen überschreiten.
Eine besondere Herausforderung für den Radfahrer Christian Rusterholz. Christian Rusterholz ist selbst vor sechs Jahren an MS erkrankt.
Das Motto, das ihn auf der Reise begleitet und motiviert hat: "Ich habe die MS, nicht die MS mich."
Herr Rusterholz hat sich vor der Tour freundlicherweise für Sprechzimmer für ein Interview zur Verfügung gestellt.
Sprechzimmer: Herr Rusterholz, wie war das damals für Sie, wie hat sich die Krankheit erstmals bei Ihnen bemerkbar gemacht?
Christian Rusterholz
Mein erster Schub begann so: Ich lag im Bett und spürte ein Kribbeln in den Waden und in den Schienbeinen. Am Morgen war dieses Gefühl nicht weg, sondern bereits in den Oberschenkeln spürbar. Beim Bauchnabel hörte es zum Glück auf. Dies beunruhigte mich sehr und ich suchte meinen Hausarzt auf, der mich danach zum Neurologen überwies.
Sprechzimmer: Wie fühlten Sie sich, nachdem die Diagnose fest stand?
Christian Rusterholz
Für mich brach eine Welt zusammen. Immer wieder stellte ich mir die Frage: warum ich? Und wie so viele andere auch glaubte ich zunächst, dass das ein einmaliger Schub gewesen sei, der nie wieder kommen würde.
Ich gebe zu, bis zu diesem Moment hatte ich noch selber ein völlig falsches Bild von der Krankheit MS. Ich setzte mich an den Computer und recherchierte – nach einer halben Stunde stellte ich den Computer völlig desillusioniert ab: Einschränkungen, Lähmungen, Rollstuhl – ich dachte, das ist das Ende. Ist es aber nicht! Deshalb diese "Grenzen-überschreitende"- Tour. Einerseits für mich, weil ich ein Bewegungsmensch bin, andererseits möchte ich allen Menschen Mut machen, selber immer wieder Grenzen auszutesten und wenn möglich zu überschreiten – vor allem auch Menschen, die meinen, eine chronische Krankheit wie MS verurteile einem zum Nichtstun.
Sprechzimmer: Wie stark veränderte die Diagnose MS Ihr Leben?
Christian Rusterholz
Nach dem ersten Schub ging es mir körperlich bald wieder gut und die Beeinträchtigungen waren zum Glück sehr gering. Ich hatte nur immer das Gefühl, als wären meine Socken unter dem Fuss zusammengerutscht. Ich zog sicher 100 Mal am Tag meine Socken hoch um die vermeintlichen Falten aus den Socken zu ziehen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich die MS ansonsten einfach ignoriert und sie als einmaligen körperlichen "Ausrutscher" betrachtet. Ich betätigte mich weiterhin sportlich mit Inline Skating, Eishockey und Rudern.
Aber im Winter 07/08 wurde mein Gangbild schlechter. Im Frühling 2008 hatte ich Mühe auf den Inlineskates. In LeMans am 24 Stundenrennen ging auf einmal gar nichts mehr. Ich hatte keinen Schub, sondern eine kontinuierliche, schleichende Verschlechterung. Bei langen Ausfahrten auf den Inline Skates hatte ich plötzlich Mühe mit dem Gleichgewicht. Schon in der ersten Runde ging nichts mehr. Der Kopf wollte zwar, nur die Beine fuhren unkoordiniert und unkontrolliert auf die Abfahrt zu. Ein sehr unangenehmes Gefühl bei 50 Stundenkilometern.
Da meine Entzündungsherde im Rückenmark sind, habe ich zum Glück nur Probleme mit den Beinen. Augen und Kopf sind in Ordnung. So kann ich weiterhin 100% meiner Arbeit nachgehen - oder sind es 120%? (Anmerk. der Redaktion: Man glaubt Herr Rusterholz sofort, dass es eher 120% sind!)
Sprechzimmer: Wie gut geht es Ihnen mit der Therapie?
Christian Rusterholz
Die Medikamente vertrage ich grundsätzlich gut. Oft stelle ich mir die Frage, ob sie etwas nützen. Die Medikamente verhindern zwar Schübe, helfen aber nicht, das gesamte Krankheitsbild zu verbessern. Aber ich denke, ohne Medikamente hätte ich mit grosser Wahrscheinlichkeit noch mehr Schübe gehabt und dadurch wäre ich wahrscheinlich körperlich viel mehr eingeschränkt. Ich glaube, ich wäre ohne die medikamentöse Behandlung nicht mehr so gut "zwäg".
Eine Kurwoche verbesserte meinen körperlichen Zustand um einiges; mein Gangbild war viel besser und ich hinkte nicht mehr.
Sprechzimmer: Sie sind ein Bewegungsmensch, was bedeutet Bewegung heute für Sie?
Christian Rusterholz
Bewegung und der Erhalt der Mobilität sind für mich extrem wichtig. So kann ich weiter arbeiten und am gesamten Leben teilnehmen. Seit dem Kuraufenthalt turne und dehne ich jeden Morgen eine halbe Stunde. Das hilft mir sehr. Jede Woche gehe ich zum Physiotherapeuten und der behandelt dann meine grössten "Schwachstellen". Und ich fahre Rad! Seit LeMans fahre ich Rad. Mit den Klickpedalen ist meine Schwachstelle, das rechte Bein, damit gut geführt. Damit ist es mir immer noch möglich, grosse Distanzen zu fahren. Seit zwei Jahren begleite ich meine skatende Partnerin und andere Kollegen. Oft fungiere ich auf dem Fahrrad auch als Zugpferd – wenn die Skaterrollen stolpern, ziehe ich meine Partnerin mit.
Sprechzimmer: Welche Wünsche haben Sie an die Zukunft?
Christian Rusterholz
Dass sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet. Keine Schübe, keine weiteren Entzündungen mehr und dass damit meine Mobilität und Beruftätigkeit weitererhalten bleibt. Manchmal habe ich Angst, dass es für mein Umfeld "mühsam" werden könnte, wenn’s mir schlechter ginge.
Sprechzimmer: Wo fühlen Sie sich am stärksten eingeschränkt?
Christian Rusterholz
Beim Sport. Leider kann ich nicht mehr Skaten und nicht mehr Skifahren. Beim Gehen stolpere ich öfters und vermutlich denken dann die Leute: "Der ist schon am Morgen betrunken" – das macht mir Mühe und macht mich traurig.
Sprechzimmer: Haben Sie noch einen Tipp oder einen Rat für Neubetroffene?
Christian Rusterholz
Den Kopf nicht hängen lassen. Das soziale Umfeld pflegen und auf seinen Körper hören. Solange es geht: Aktiv und sportlich bleiben und damit die Mobilität möglichst lange erhalten. Aber auch das Gegenteil: Dem Körper seine Ruhe, die er vermehrt braucht, auch geben. Und: Täglich seine Grenzen ausloten und wenn’s geht auch immer wieder überschreiten.
Wir vom Sprechzimmer-Team danken Herr Rusterholz ganz herzlich für das sehr offene und spontane Interview und wünschen ihm weiterhin viel Lebenslust und Leidenschaft und alles Gute für die Zukunft.
Zum Interview-Partner
Christian Rusterholz, 43-jährig, ist gelernter Tiefbauchzeichner, absolvierte später das Studium zum Bauingenieur und anschliessend das Wirtschaftsstudium.
Seit 11 Jahren ist er Leiter Marketing und Logistik bei einer grossen Schweizer Firmengruppe im Baustoff- und Baubereich. Herr Rusterholz wohnt und lebt mit seiner Lebenspartnerin und ihrer Tochter in Richterswil. Sein Hobby – nebst Radfahren – ist Eishockey. Viele Jahre spielte Herr Rusterholz auch Fussball beim FC Wädenswil.
Weitere Informationen
10.05.2010